Mein Brief an den Weihnachtsmann für den Adventskalender von 180 °C
Lieber Weihnachtmann,
ich weiß nicht, was los ist. In diesem Jahr bin ich unweihnachtlicher als sonst. Dabei habe ich Weihnachten so unheimlich gern. Wie Du weißt, backe ich nicht, aber es gibt so viele Düfte, die mir diese wunderschöne Zeit des Jahres trotz alledem heraufbeschwören können. Gebrannte Mandeln auf dem Weihnachtsmarkt, das frisch geschlagene Tannengrün in der Wohnung, der Duft des Kerzenwachses am Baum und auch der Käseduft vom Raclette am Heiligen Abend. All das ist Weihnachten für mich.
Das allerschönste Weihnachtsgeschenk aber, das ist für mich Zeit. Zeit, einmal innehalten zu können. Wieder aufmerksam sein zu können, für die Menschen, die mich lieben und die mich das ganze Jahr mit ihren Kräften tragen. Und ich frage mich immer öfter, wie das alles wohl ein Weihnachtmann macht, in diesen immer hektischer werdenden Zeiten. Weihnachten 2.0, wie geht das? Lebst Du noch am Nordpol? Oder ist es Dir dort mittlerweile viel zu eng geworden? Du musst doch inzwischen eine Vielzahl von Mitarbeiterinnen haben, machen das alles noch Engel oder hast Du bereits in Himmels-Callcenter nach Indien ausgesourct? Wie erreichen Dich die Wunschzettel? Legen die Kinder diese Briefe an Dich noch auf die Fensterbank und wer holt sie dann dort ab? Ich weiß, dass das in Deutschland vielerortens noch so gemacht wird, aber allein im dienstältesten Weihnachtspostamt der Welt, in Indiana, landen jedes Jahr über eine halbe Million Emails an Dich. Wie lange wirst Du die „Brief-Bastion Deutschland“ noch halten können? Und wer beantwortet das alles? Wie groß ist Deine Rentier-Schlitten-Flotte mittlerweile? Hast Du einen Fuhrparkmanager? Werden Rentiere und Schlitten geleast? Hast Du eine Dienstschlittenregelung für Privatfahrten? Wie hältst Du es mit Arbeitszeitgesetzen? Was machst Du im Krankheitsfall, gibt es Lohnfortzahlung für Engel? Haben Engel Gewerkschaften? Und wer putzt am Ende der Weihnachtszeit den ganzen Glitter eigentlich wieder weg?
Wer macht die vielen Geschenke? Und wo? Bist Du Gründungsmitglied von Amazon? Heimlicher Aufsichtsratsvorsitzender gar? Wer bereitet alles versandfertig vor? Allein der Frankfurter Flughafen hat ein Gepäcknetz von ca. 75 km, über die die Gepäckstücke der Reisenden verteilt werden. Weltweit gehen im Jahr immerhin rund 33 Millionen Gepäckstücke auf den Flughäfen verloren. Wie läuft das so bei Dir? Hast Du eine offizielle Reklamationsquote? Wie gehst Du überhaupt mit Kundenreklamationen um? Und wie stellst Du sicher, dass das neutrale Paket mit FSK 18 nicht den kleinen Kurt von nebenan erwischt? Eigentlich ist es kein Wunder, dass Du ab dem 25. Dezember eines jeden Jahres wieder monatelang Ruhe benötigst. Bis der Osterhase spätestens ab Ende Februar wieder auf der Matte steht und quengelt. Was ist dran an der viel kolportierten Geschichte von Deinen Schokoladenausverkäufen zu 2 Ct/100 g, die der Osterhase günstig erwirbt und in neuer Form und Verpackung dem Wirtschaftskreislauf zuführt? Hast Du 2 Cent-Shops, wo der Hase und seine Mitarbeiter einkaufen können? Verkaufst Du dort auch „Gutes aus dem Vorjahr“ zum halben Preis?
Ich stelle mir das Weihnachtsmanndasein nicht einfach vor in der heutigen Zeit! Und ich kann verstehen, dass Du Dich in diesem kleinen Bloggerdorf jedes Jahr besonders wohlfühlst. Das war aber auch eine besonders tolle Idee von Dir, vor Jahren diesen Adventskalender in Europas größtem Kochforum, Unterabteilung Wein, zu gründen. Mit der Verbohrt-und Dummheit der Betreiber und so mancher User konntest Du ja nicht rechnen, das nimmt Dir keiner übel. Dass so mancher jetzt umgezogen ist, um sich hier im Dorf nieder zu lassen – Du weißt ja am allerbesten, wie das läuft mit der Globalisierung und so. Wer bleibt heutzutage noch länger als unbedingt nötig an ein und demselben Ort? Manchmal ist es auch einfacher zu gehen, als sich an verschiedenen Dingen oder virtuellen Menschen aufzureiben. Und hier ist es ja auch wirklich nett geworden in den letzten zwei Jahren. Ich weiß auch, es gibt hier so etwas wie die Schlossallee und die Badstraße und das Gras auf der anderen Seite des Zaunes ist immer etwas grüner, aber so insgesamt gibt es hier eine ziemlich nette Nachbarschaft. OK, so Stinkstiefel, mein Gott, die gibt´s doch überall. Du kennst das ja auch, da entpuppen sich oft erst nach vielen Jahren kleine güldne Engel zu pechschwarzen, was willst Du da machen? Die boykottieren halt die gemeinsamen Straßenfeste und Grillabende, aber lass sie. Da machst Du nix, der Osterhase nix, da könnte noch nicht einmal der Chef selbst beschwichtigend eingreifen. Die Menschen sind wie sie sind, mal netter und mal weniger, mal verbohrt und mal weltoffen. Es geht den Menschen halt wie den Engeln.
Ich war ja selbst mal neu hier. Habe mir ein kleines Reihenendhaus zugelegt und mich langsam und fleißig in der Nachbarschaft bekannt gemacht. Aber ich war doch lange ein bisschen einsam. Bis dann das leer stehende Haus neben dem meinen auf einmal mit Leben gefüllt wurde. Erst waren es nur
zwei unglaublich nette junge Frauen, die dort einzogen. Die eine echt heiß, guck mal genauer hin das nächste Mal, sie trägt Lederröcke auf eine Art und Weise, da muss doch auch ein Weihnachtsmann ins Schwitzen kommen! Ihre Freundin war mir auch gleich sympathisch, sie kommt wie ich selbst auch aus dem Norden, die würde Dir gefallen! Norddeutsche Schnodderschnüss am hübschen Leib und dabei unglaublich herzlich und offen. Ich habe immer ein bisschen überlegt, was die zwei wohl so alleine mit dem großen Haus wollen, eine Zeitlang hatte ich das Gefühl, sie kommen mit der vielen Arbeit gar nicht mehr nach. Die Zwei sind Ingenieurinnen, Du kannst Dir also vorstellen, WIE akkurat da die Rasenkanten aussehen. Es gibt auch keine runden Wege, alles exakt in diversen Winkeln, hinter denen sich jeweils eine mathematische Formel verbirgt, ich kann Dir sagen, jeder Besuch war auch immer ein kleines bisschen Demütigung in Sachen Mathematik. Kein Grillabend ohne Geodreieck!
Damit das Haus nicht verwahrlost in den Zeiten, in denen sie nicht zuhause sein können, haben Sie sich neulich einen
Praktikanten eingestellt. Der verrichtet jetzt einfache Tätigkeiten, wie Rasenkantenstechen, Wein kühl stellen und die Schminkspiegel halten. Vieles muss man ihm noch beibringen, aber er ist für jede Schandtat bereit. Mir selbst hat er schon mitten in der Nacht auf einem dunklen Parkplatz in Rheinhessen Wurstdärme zum Wässern überreicht, Du musst also bei ihm wirklich mit allem rechnen. Weil er einen Hang zum Alkohol hat und die Weinkellerverwaltung unter seiner Ägide mehr unter dem Motto „Verwalten durch Austrinken“ stand, und außerdem auch noch Platz in der Einliegerwohnung war, haben die zwei jungen Frauen sich noch eine Sommeliere ins Haus geholt. Und JETZT kommst: Du kennst sie nämlich auch! Rate mal! Du kommst nicht drauf? Es sei Dir verziehen, Du hast ja auch wirklich viel um die Ohren. Es ist
Susa, der Du vor Jahren die Betreuung des Adventskalenders im Kochforum, Unterabteilung Wein, übergeben hast! Ja, gell? Ich fand das auch sensationell! Und wie klein die Welt doch ist, da ziehst Du fast bis ans Ende der Welt und triffst trotzdem immer wieder alte Bekannte! Schön ist das, ich mag das sehr, weil ich ja so ein Familientier bin. Ich bin so gerne umgeben von netten Menschen, mit denen mich bereits einiges verbindet. Die wissen bereits so vieles von mir, wir haben zu fünft schon eine Menge erlebt. Denen konnte ich ohne rot zu werden die Geschichte von meinem Abtauchen in die Kanalisation, mit nicht viel mehr als einem Stringtanga bekleidet, erzählen. Die wissen auch, wie ich vor Jahren Bukowski-like dem Alkohol verfallen bin auf der Suche nach einer Weihnachtsgeschichte. Sogar bei der Einweihung meiner neuen Küche haben sie mir unter die Arme gegriffen. So etwas verbindet. Da musst Du Deine eigenen Verrücktheiten nicht mehr viel erklären, solche Nachbarn nehmen Dich einfach so, wie Du bist.
Und weil ich persönlich politisch eine so links stehende Vergangenheit habe, bin ich natürlich hoch erfreut, so eine Art Kolchose mit Genussanspruch neben mir zu haben. Wenn mir mal ein Tässchen demi glace ausgeht, brauche ich nur nebenan an die Tür zu klopfen, einer ist immer zuhause. Bei Fragen zu Weinen aus dem Bordeaux gehe ich immer erst mal nach nebenan, bevor ich so jemand unpersönlichen wie Google frage. Ich leihe mir dort mal einen Fleischwolf oder einen Wurstdarm und manchmal treffen wir uns auch einfach nur ganz entspannt zum Feiern.
Ich weiß ja nicht, wie Du das machst, lieber Weihnachtsmann. Ich weiß, dass Du Dir mit dem Hasen nicht so grün bist und der Weg zur Niederlassung für Seniorenweihnachtsmänner ist immer fast eine Tagesreise. Ich kann Dir nur von Herzen wünschen, dass Du so nette Nachbarn hast wie ich! Und jetzt wünsche ich Dir viel Kraft für die letzten Tage Deiner heißesten Zeit im Jahr! Wenn Du zwischendurch mal auftanken möchtest, komm ruhig vorbei, Du bist stets willkommen. Wir holen uns aus der Kolchose einen Wein, der Praktikant hat super Connections zu leichtbekleideten Tänzerinnen, die können auch mal keine Engel sein, wenn Du verstehst, was ich meine. Also wenn Du mal so richtig entspannen möchtest, klingel hier oder nebenan, ganz egal, Gastfreundschaft ist Dir immer gewiss.
Und ganz zum Schluss: Bitte werde nicht so globalisiert, wie alles um uns herum. Bitte beantworte weiterhin viele Kinderbriefe noch schriftlich, bitte lass das Christkind beim Stollenbacken mal wieder den Himmel rot malen und wenn es irgendwie geht, dann gibt mir bitte mein Weihnachtsgefühl zurück, es ist mir irgendwo abhanden gekommen und ich kann es nicht wiederfinden. Ich nehme auch gerne ein ganz Neues!
Mit vielen fröhlichen Weihnachtsgrüßen
Deine AT
Genießt euren Tag!